Schuld und Sühne
Schnell wird in Michèle Minellis Roman klar, dass eine Familie aus den Fugen geraten ist. Der Leser steigt ein in ein Blitzlicht aus Kurzsätzen und Szenen. Das Kriseninterventionsteam kümmert sich um die kleine Schwester, die Mutter wird von der Polizei verhört, der nahezu 16-jährige Ich-Erzähler Wolfgang wird in eine Einrichtung für traumatisierte Jugendliche verbracht. Die Verwirrung kommt in Fragmenten durch. Eine Katastrophe hat sich ereignet. Später wird sich ein Bild daraus formen, wenn der jugendliche Ich-Erzähler in Gesprächen mit Psychologen immer wieder rückblendet und eine weibliche Ich-Erzählerin das Geschehen auf andere Weise ausleuchtet.
Michèle Minelli inszeniert sprachlich und dramaturgisch eine Tragödie mit großer poetischer Wucht. Die Verbindung von literarischer Form, Ethik und Psychologie ist eine sehr eigene und gekonnte Form des Coming-of-Age-Romans. Die Ich-Perspektiven der beiden Erzähler geben Gefühle, Beziehungsebenen, aber eben auch psychische Störungen und alterstypische Entwicklungen kaleidoskopartig wieder, verdichten das Geschehen, ohne zu viel preiszugeben. Dass bis kurz vor Schluss unklar bleibt, wer tatsächlich der Täter ist, bildet das Thrillerelement in dem außergewöhnlichen Jugendroman.
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Christine Paxmann
(mehr dazu im Eselsohr 12/18, S. 27)